Freitag, 16. Juni 2017

Volker Kutscher: Lunapark

- der sechste Fall für Gereon Rath.

Gebundene Ausgabe, 557 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 2016



Inhalt
Dies ist bereits der 6.Fall, den der unkonventionelle und eigenwillige Kriminalkommissar Gereon Rath in der Berliner Kriminalgruppe unter Ernst Gennat, der Buddha genannt, löst.
Spielte der 1.Fall noch in der Weimarer Republik, sind im Jahr 1934 die Nazis an der Macht und bauen ihren Terrorstaat aus - im Fokus stehen die Braunhemden. Der Roman spielt unmittelbar vor und während dem sogenannten Röhm-Putsch, in dem große Teile der SA liquidiert wurden.

In der Gestapo hat der ehemalige Kriminalsekretär Raths, Reinhold Gräf inzwischen Karriere gemacht hat, während Rath weiterhin vergeblich auf eine Beförderung wartet.

Im aktuellen Fall wird ein SA-Mann tot unter einer Brücke aufgefunden, an dessen Pfeiler die Parole:

"ARBEITER WEHRT EUCH! TOD DEN HITLERFASCHI..." (S.17)

unvollständig gepinselt wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass das Opfer Hermann Kaczmarek, ein SA-Rottenführer, die Kommunisten dabei gestört hat, die Parole zu vollenden und dafür mit seinem Leben bezahlen musste.
Neben dem Morddezernat ermittelt auch die Gestapo in dem Fall, für Rath äußerst ungewöhnlich, der eine gemeinsame Arbeit mit der Politischen Polizei immer schon abgelehnt hat.
Bei der Durchsuchung der Wohnung des Toten stößt Andreas Lang, Raths Kriminalsekretär, auf ein kleines Waffenarsenal und eine hohe Summe Geld. Wie kommt ein einfacher SA-Rottenführer zu solch einer Summe? Daneben findet Lang auch ein Foto, auf dem der Tote gemeinsam mit Hermann Lapke zu sehen ist, dem ehemaligen Chef der Nordpiraten, eines kriminellen Ringverbandes, der unter den Nazis zerschlagen wurde und anscheinend im SA-Sturm 101 im Wedding aufgegangen ist. Des Weiteren ist Erich Sperling auf der Fotografie zu sehen, der zum Feldjägerkorps gehört, die schwarze Schafe in der SA aufspüren sollen - eine interessante und nützliche Verbindung.
Die Gestapo ist an dem Fall deshalb interessiert, da die Parolen überall in der Stadt auftauchen und sie vermutet ein nach Moskau emigrierter Kommunist sei zurückgekehrt.
Zeitgleich taucht die junge Alex Reinhold bei Charly Rath auf. Alex Bruder, ein Kommunist, stand einst unter Verdacht einen SA-Mann getötet zu haben. Hängen diese Ereignisse zusammen?
Charly hatte in einem anderen Fall Alex zur Flucht geholfen, denn sie hat ein Herz für Straßenkinder. So kommt es, dass sie und Gereon Fritz Thormann, eine Waise, als Pflegekind angenommen haben.

Der 13jährige Junge möchte unbedingt Mitglied in der Hitlerjugend werden und bringt folgendes Argument vor:

"Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist?", sagte er, und sein Stimme war kurz davor, sich zu überschlagen. "Ich bin der Einzige in unserer Klasse, der noch nicht dabei ist. Der Einzige! Weißt du, was ich mir alles anhören muss?" (S.31)

Trotzdem ist Charly dagegen, während Gereon die HJ als harmlose Pfadfindertruppe abtut. Sein mangelndes politisches Interesse scheint zunehmend gefährlicher für ihn zu werden, während Charly die neue Situation gut einschätzen kann.

Als Gereon Rath den Obduktionsbericht erhält, ist er sicher. Das ist kein politischer Mord, denn Hermann Kaczmarek ist an einem Glasauge erstickt - und erst nach seinem Tod so übel zugerichtet worden. Wie kommt das Glasauge Walter Spindlers in Katsches, der Spitzname Kaczmareks - Luftröhre - was hat der Kommunist Spindler mit dem Fall zu tun?
Des Weiteren findet Raths Sekretärin heraus, dass fast alle Mitglieder des SA-Sturmes 101 ehemalige Nordpiraten sind, anscheinend hat ihr Chef Hermann Lapke nach der Säuberungsaktion seine Truppe in die SA überführt und geht weiterhin seinen Geschäften - Waffenhandel, illegale Spielcasinos - nach.
Nachdem ein weiterer SA-Mann ermordet wird, taucht ein weiterer alter Bekannte Gereon Raths auf, der mächtige Gangster Johann Marlow. Die beiden verbindet eine lange - für einen Polizeibeamten unheilvolle - Geschichte. Erneut bittet Marlow Rath um einen Gefallen, denn er kennt den Mörder der SA-Männer und auch das dahinter stehende Motiv.
Wird Rath darauf eingehen? Wem gilt seine Loyalität? Und welche Rolle spielt der stillgelegte Lunapark im Kriminalfall?
Der Fall nimmt noch einige unerwartete Wendungen und am Ende stellt sich heraus, dass man im Neuen Deutschland kaum noch jemandem trauen kann und offene Rechnungen beglichen wurden.

Bewertung
Kutscher zeichnet ein realistisches Bild Berlins im Jahre 1934. Die umgehende Angst, das Misstrauen, das Zerwürfnis innerhalb der Familie, wenn sich politische Einstellungen widersprechen, aber auch die Naivität derer, die glaubten, der Spuk sei bald vorüber, wird deutlich.
So gesehen ist dieser Roman auch ein Beitrag gegen das Vergessen, da er sehr deutlich die Brutalität der SA, SS und Gestapo und die Hilflosigkeit derer schildert, die noch an den Rechtsstaat glauben - obwohl längst Willkür und Terror herrschen.

Der Kriminalfall ist spannend, aber wie immer bei Kutscher sehr kompliziert. Über 560 Seiten fällt es manchmal schwer alle Handlungsfäden im Blick zu behalten. Zudem gibt es viele Anspielungen auf die vorangegangenen Fälle, Ereignisse, die mir nicht mehr so präsent waren.
Nichtsdestotrotz habe ich auch diesen Kriminalfall bis zum Ende hin mit Interesse verfolgt und mein geschichtliches Wissen aufgefrischt und einiges dazugelernt.

Die Figur Gereon Raths ist faszinierend, da er sich den einfachen Kategorien gut - böse entzieht. Zwar ist er als Kriminalpolizist auf der Seite, die Verbrecher ausfindig macht und der Bestrafung zuführen soll - doch wie immer handelt er auf eigene Faust und verfolgt eigene Ziele.
In der Zusammenarbeit mit Marlow zeigt sich zum ersten Mal, dass er sich mit einem brutalen Gangster eingelassen hat und Raths Widerwille nimmt zu, Marlow zu Diensten zu sein. Doch dieser weiß, wie er Rath auf Kurs bringen kann.
Seine politische Naivität ist nur schwer zu ertragen, Charly bietet da einen positiven Gegenentwurf, doch seine Geheimniskrämer gefährdet wieder einmal ihre Beziehung und am Ende dieses Falls kann man gespannt sein, wie es mit den beiden und dem Jungen Fritz weitergeht.