Sonntag, 16. April 2017

Gerhard Jäger: Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod

- ein spannender und poetischer Kriminalroman.

Gebundene Ausgabe, 400 Seiten
Blessing, 26.September 2016



Das Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt.


Inhalt
"Jetzt" lautet die Überschrift des 1.Kapitels, jetzt schaut sich ein alter Mann ein Schwarz-Weiß-Foto an, auf dem eine tote Frau im Schnee liegt.

"Die Haare der Frau sind schwarz, die Kleidung grau, der Schnee weiß. Nur nicht neben ihrer Schulter, da ist der Schnee schwarz. Schwarz von Blut." (S.5)

Dann springt die Handlung zurück: "VOR SECHS TAGEN Sonntag"

"Ich sehe einen großen Vogel. Er wird dich nach Hause bringen an deinem achtzigsten Geburtstag." (S.7)

Eine Prophezeiung, die der Ich-Erzähler vor vierzig Jahren von einer Indianerin erhalten hat. Seine Frau Rosalind, leidenschaftliche Anhängerin der Indianerkultur hat ihn dorthin geschleppt. Inzwischen ist sie tot, vor 12 Jahren gestorben. Schatten liegen über diesem Tod, dessen Ursache erst ganz am Ende vollständig aufgedeckt wird.
Der alte Mann sitzt im Flugzeug und denkt an jenes kuriose Ereignis zurück, er ist auf dem Weg von den Vereinigten Staaten von Amerika nach Innsbruck, um dem Geheimnis Max Schreibers auf die Spur zu kommen.

Der Historiker Max Schreiber reiste im Jahr 1950 in ein abgelegenes Bergdorf, um dort für ein Buchprojekt zu recherchieren und verschwand spurlos im legendären Lawinenwinter, zugleich wurde er des Mordes bezichtigt. Mehr erfährt man zunächst nicht.

Montags - VOR FÜNF TAGEN - macht sich der Ich-Erzähler, der alte Mann, auf den Weg ins Landesarchiv. Eine junge blonde Frau weist ihm - Mr.Miller - einen Platz im Lesesaal zu und überreicht ihm seine Unterlagen: Polizeiakten, die jedoch wegen eines Brandes im Polizeiarchiv nur unvollständig erhalten sind, sowie ein in Leder gebundenes Buch, das Manuskript Schreibers, angefertigt in jenem Winter 1950/51.

Bevor er beginnt zu lesen, erinnert ihn der Geruch der Bücher an das gemeinsame Antiquariat, das er mit Rosalind lange Zeit geführt hat und an seine Faszination für Lawinen und Lawinenkatastrophen. Fast wäre er während eines Urlaubs in den Rocky Mountains selbst Opfer einer solchen geworden.

Der erste Teil des Skripts trägt den Titel "Der Schnee", indem Max Schreiber seine Ankunft im Dorf beschreibt. Noch ist es Herbst und der Schnee weit weg. Das Manuskript ist in der Er-Form aus der personalen Perspektive verfasst, erst im letzten Teil "Der Tod" wird sich dies ändern...


Schreiber, der alles in Wien zurückgelassen hat - auch eine gescheiterte Beziehung, hat Anlaufschwierigkeiten im Dorf, dessen verschworene Gemeinschaft keine Fremden duldet.

"Die ersten Tage sah man Schreiber oft bei Spaziergängen durch das Dorf, er folgte den Wegen in die umliegenden Wälder, überquerte die abgeweideten Wiesen, begegnete den Bauern, den Kindern, begegnete neugierigen Blicken, freundlichen Blicken, misstrauischen Blicken. Er versuchte hie und da mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, aber es schien eine seltsame Befangenheit ihm gegenüber zu herrschen, und das Gespräch auf die Arbeit der Bauern zu lenken wagte Schreiber nicht." (S.36)

Als er in der Gaststube zum ersten Mal vom Grund seines Aufenthaltes erzählt, ändert sich die Stimmung. Er erwähnt den Namen Katharina Schwarzmann, in alten Zeitungen hat er von ihrem Fall, der letzten "Hexenverbrennung" gelesen. Sie galt im Dorf als Hexe und verbrannte 1856 lebendig in ihrem Haus, alle schauten zu und verweigerten ihr die Flucht nach draußen.

"Schreiber hatte den Namen leise ausgesprochen, aber er hatte das Gefühl, als würden diese beiden Worte bis in die hintersten Winkel des Raumes dröhnen." (S.57)

Einer der Beteiligten vertraute sich kurz von seinem Tod dem hiesigen Pfarrer an, der Max Schreiber die Geschichte  erzählt - verbunden mit der Bitte, niemanden damit zu behelligen, es werde nur Unruhe im Dorf geben, in dem man an den bösen Blick und an die Aussagen der Gertraudi glaubt. Einer Frau, die die Toten sieht, bevor sie sterben. Ein Dorf, in dem der Aberglaube und die Magie noch heimisch sind, in dem selbst der Pfarrer sich den alten Bräuchen unterwirft.

Dann kommt der Schnee und auf einem seiner Spaziergänge begegnet Schreiber der stummen Maria mit ihrem roten Tuch, die außerhalb des Dorfes auf dem Lanerhof lebt. Inzwischen ist das Dorf eingeschneit und Schreiber hilft die Wege und Straßen vom Schnee zu befreien. Das gemeinsame Arbeiten macht ihn zum Teil der Gemeinschaft und plötzlich weiß er, worüber er schreiben will.

"Der Gedanke, sich selbst und seinen Aufenthalt auf dem Berg zum Inhalt seines Schreibens zu machen, packte Schreiber mit einer ungeheuren Wucht." (S.117)

VOR VIER TAGEN- erinnert sich der alte Mann an Rosalinds letzte Begegnung mit ihrem Vater, der ihr offenbart, nicht ihr Vater zu sein. Ein Schatten liegt auf dieser Erinnerung, mit der ihre Welt zusammengebrochen ist, und der Ich-Erzähler deutet an, dass es eine weitere Enttäuschung in ihrem Leben geben wird.

Der 2.Teil des Manuskript, "Das Feuer" beginnt mit der Beerdigung des alten Kühbauers, der unter mysteriösen Umständen in seiner Scheune gestorben ist. Doch es ist Winter, Schnee liegt, kein Polizist aus dem Tal wird eine Untersuchung der Todesumstände durchführen können. Begraben werden kann der Alte wegen des eisigen Bodens nicht, so wird der Sarg in der Scheune der Kühbauers aufgestellt. Schreibers Akzeptanz im Dorf ist gestiegen und auf einem seiner Spaziergänge trifft erneut auf die stumme Maria, die ihn nach einem Sturz behutsam verarztet.
Währenddessen freundet sich mit Georg Kühbauer an, ausgerechnet mit dem Mann, der das Vertrauen der stummen Maria gewinnen will und im Außenseiter Schreiber einen Verbündeten zu finden glaubt, der ihm helfen könne, denn im Dorf wird er für seine Liebe verspottet.
Trotz der schwierigen Situation und Schreibers innerem Konflikt - dem Wunsch nach Akzeptanz und Eifersucht - will er bleiben. Ein Ausflug mit dem Ortsvorsteher Brückner ins Tal hinein führt ihm dies vor Augen - er bleibt wegen wegen Maria, wegen seiner Geschichte.
Und so verrät er seinen Freund und wird am Heiligen Abend zum Schatten, wird entdeckt und ein Feuer führt zur Katastrophe...

VOR DREI TAGEN erinnert sich auch der alte Mann an ein Feuer, ein Feuer in seinem Haus, bei dem seine Frau Rosalind umgekommen ist.

"Die Schuld"
Nach dem Feuer wendet sich die Stimmung gegen Schreiber und während er sich Maria annähert, erfährt er vom Pfarrer, warum die Menschen ihn meiden. Er erzählt ihm auch die Geschichte der jungen, stummen Frau und warnt Schreiber davor, im Dorf zu bleiben, genau wie der blinde Seiler, der ihm eine Geschichte über eine unmögliche Liebe erzählt.

"Meine Welt ist nicht deine Welt, es ist immer nur die Grenze von deiner Welt und die Grenze von meiner Welt, an der wir uns kurz treffen können, ahnen können, mehr ist nicht für dich und für mich." (S.279)

Doch es ist zu spät, ins Tal zurückzukehren.

"Langsam baut der Winter an seiner Vorherrschaft, Zentimeter für Zentimeter, Meter für Meter, das Dorf und das Tal im Blick." (S.277)

VOR ZWEI TAGEN setzt sich auch der Ich-Erzähler mit seiner Liebe und dem Verrat, den er an ihr begangen hat, auseinander.

Im letzten Teil "Der Tod" pferchen die abgehenden Lawinen die Bewohner des Dorfes auf engstem Raum in der Kirche zusammen und es kommt zu jenem Mord, für den Schreiber gesucht und niemals gefunden wurde. Und aus dem Er - Max Schreiber, wird Ich, der Historiker Max Schreiber, die Unmittelbarkeit erzeugt eine intensive Spannung am Ende des Manuskripts.

Noch bleibt ein Tag vor dem Jetzt und die Frage, wer der alte Mann wirklich ist.

Bewertung
Ein meisterhaft komponierter Roman, der neben der sich steigernden Spannung durch seine wunderbare Sprache fasziniert, die die jeweilige Stimmung Max Schreibers und des Ich-Erzählers so widerspiegelt, dass man als Leser/in ins Geschehen hinein gezogen wird. Wenn Max Schreiber von der "kalten Hand" erzählt, die sich auf seine Brust legt, als er von einer Lawine verschüttet wird, habe ich die Luft angehalten. Wenn er seine Begegnungen mit Maria schildert, scheint der Zauber dieser greifbar zu sein.
Jäger setzt so virtuos Satzbau, Wiederholungen und ungewöhnliche Bilder ein, dass die verdichtete Sprache fast schon lyrisch wirkt. Manche Sätze habe ich mehrfach gelesen, nur um herauszufinden, warum sie solch eine Wirkung erzeugen.

"Er hatte lange nicht daran gedacht, an diesen ersten Abend, an dem alles noch so leicht schien, so klar, als sie beide noch nicht vom Alltag eingeholt waren, vom täglichen Aufstehen, Arbeiten, von dieser immer mehr und mehr sich einschleichenden Schwere, diese Bahnen, die sich wie Schienenstränge durch das Leben zu ziehen begannen, einhergingen mit Ernüchterung, mit Gewohnheit, mit Fantasielosigkeit und geschlossenen Fenstern bei Regenwetter." (S.50)

- Schreibers Gedanken zu seiner gescheiterten Beziehung.

Auf der Rückumschlagseite ist von einem "sprachgewaltigen" Roman die Rede, ein inflationärer Begriff, der in diesem Fall jedoch in jeglicher Hinsicht zutrifft.

Daneben überzeugt aber auch die Geschichte: die Beschreibung der geschlossenen Gesellschaft des Dorfes, mit seinem Aberglauben, den eigenen Gesetzen und der Diskriminierung der Auswärtigen - ein sehr aktuelles Thema. Schreiber hat kaum eine Chance, darf sich keinen Fehler erlauben, zu misstrauisch sind die Einheimischen gegenüber dem Fremden, der in alten Geschichten und Wunden rührt. Faszinierend auch die Beschreibung der Naturgewalt, der der Mensch nichts entgegenzusetzen hat. Die Lawinen offenbaren die Hilf - und Machtlosigkeit angesichts einer entfesselten Natur, die die Gefühle der Bewohner widerspiegelt, die den Fremden des Mordes bezichtigen, bevor sie einen aus ihrer Mitte ins Auge fassen.

Mich hat der Roman auf ganzer Linie überzeugt, Story, Komposition und Sprache und ich hoffe, der Autor wird weitere folgen lassen.