Donnerstag, 13. Oktober 2016

Rose Tremain: Und damit fing es an

- eine bewegender Roman über eine besondere Freundschaft.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 333 Seiten
Verlag: Insel-Verlag
Erschienen am: 8. August 2016
ISBN-13: 978-3-458-17684-8


Herzlichen Dank an den Suhrkamp/Insel-Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
Der 1.Teil des Romans spielt in der Schweiz, im kleinen Ort Matzlingen im Jahre 1947. Im Mittelpunkt stehen die beiden Jungen Gustav und Anton, die sich in der Vorschule an Antons erstem Tag in der Stadt kennen lernen. Spontan freunden sich die beiden an, die jeweils aus einem ganz unterschiedlichen sozialen Umfeld kommen. Gustavs Vater ist bereits tot, weil er - wie seine Mutter Emilie betont - vor dem Krieg den Juden geholfen habe.

"Er war ein Held", sagte Emilie jedes Jahr wieder zu ihrem Sohn. "Zuerst habe ich es nicht begriffen, aber das war er. Er war ein guter Mann in einer verkommenen Welt." (S.12)

Emilie lehrt Gustav sich zu beherrschen, das sei wichtig im Leben, während der Junge eigentlich von seiner Mutter wahrgenommen und geliebt werden will.

Sie leben zusammen in einer kleinen Wohnung, ihren Lebensunterhalt verdient Emilie in einer Käse-Kooperative, zusätzlich muss sie am Wochenende noch eine Kirche putzen.
Anton Zwiebel dagegen stammt aus einem wohlhabenden, kultivierten Elternhaus. Die Familie ist aus Bern hergezogen, der Vater Bankier und den Nazis - so wird es angedeutet - entkommen.
Die Zwiebels sind Juden, so dass Emilie, die diese für den Tod ihres Mannes verantwortlich zu machen scheint, ihnen gegenüber eine Abneigung empfindet.
Trotzdem wird Gustav Teil dieser kultivierten Familie und wird es sein Leben lang bleiben. Besonders mit Antons Mutter Adriana verbindet ihn ein vertrautes Verhältnis, hat er sie als Junge bewundert, wird er als Erwachsener zu einem sehr guten Freund.
Während Emilie ihre Arbeit verliert und aufgrund einer schweren Lungenentzündung fast stirbt und ins Krankenhaus muss, so dass Gustav gezwungen ist, alleine zurecht zu kommen, treibt den musikalischen Anton die Sorge um, vor Publikum auftreten zu müssen. Er möchte an einem Klavierwettbewerb teilnehmen, doch es fällt ihm schwer, sein musikalisches Talent auf der großen Bühne zu beweisen.
1952, da sind die beiden Jungen 10 Jahre alt, reist Familie Zwiebel gemeinsam mit Gustav nach Davos. Dort entdecken die beiden ein verlassenes, schon halb verfallenes Sanatorium und spielen dort gemeinsam, sie würden die Tuberkolose-Kranken versorgen, gleichzeitig entscheiden sie, wer überlebt und wessen "Leiche" verbrannt werden muss.

"Später in ihrem Leben fragten sie sich, ob das Spiel, das sie damals in Davos erfunden hatten, eigentlich >in angemessenem Rahmen< geblieben war. Sie wussten, dass es befremdlich gewesen war. Aber in der Befremdlichkeit lagen auch seine Faszination und seine Schönheit." (S.108)

Während dieses Spiels muss Gustav Anton einmal reanimieren:

"Langsam und widerstrebend näherte Gustav seinen Mund dem von Anton und berührte flüchtig seine Lippen. Er merkte, dass Anton den Arm hob, ihm um den Hals legte und ihn so weit zu sich herunterzog, dass die beiden Münder jetzt hart aufeinanderlagen, und Gustav fühlte, dass Antons Gesicht brannte." (S.114)

Im 2.Teil wird die Geschichte Emilies und Erichs Perle erzählt, wie sie sich kennen lernen, heiraten und schließlich Gustav auf die Welt kommt - auch wenn der das zweite Kind des Paares ist.
Die "Heldentat" Erich Perles besteht darin, dass er Juden geholfen hat, in die Schweiz einzureisen, nachdem dies offiziell nicht mehr möglich gewesen ist.

"Am 18.August ergeht eine Anweisung des Schweizer Justizministeriums in Bern, dass alle deutschen, österreichischen und französischen Juden, die nach diese Datum versuchen würden die sichere Schweiz zu gelangen, zurückzuschicken seien." (S.148)

Auch Perles Vorgesetzte Roger Erdmann steht vor einem Dilemma, wird jedoch schwer krank, sodass Erich selbst entscheiden muss, was er mit jenen Juden macht, die nach diesem Datum einreisen. Er trifft menschlich und moralisch die richtige Entscheidung, wird jedoch verraten und geht unter anderem daran zugrunde.
Sein sozialer Abstieg und sein Tod stürzen Emilie zeitlebens in eine Existenz, die zur Liebe nicht mehr fähig scheint und so lebt sie, wie schon ihre Mutter zuvor, in permanenter Unzufriedenheit. Eine Einstellung, der Gustav verzweifelt und hilflos gegenübersteht.

Im 3.Teil, der von 1992-2002 spielt, begleiten wir die erwachsenen Männer Gustav und Anton auf ihrem weiteren Weg. Gustav ist Inhaber eines Hotels, während Anton zunächst in Matzlingen in der Musikschule unterrichtet. Doch ihre Wege trennen sich, Gustav macht sich auf die Spur seines Vaters und begegnet dabei Lotti Erdmann, die im Leben von Erich Perle eine wichtige Rolle gespielt hat. Anton dagegen versucht dem engen Rahmen seiner Existenz zu entkommen und scheitert.
Das Ende ist ein versöhnliches und vielleicht ein wenig zu rührend...

Bewertung
Ein Roman über eine besondere Freundschaft, der sehr sensibel die Beziehung der beiden Jungen nachzeichnet. Ihre Unwissenheit und ihre Scham sich ihre Gefühle einzugestehen, ihre Ängste, sich dem anderen zu offenbaren, werden behutsam thematisiert, ohne die Protagonisten bloßzustellen.
Demgegenüber stehen sehr freizügige Szenen im 2.Teil der Geschichte, wenn es um die sexuellen Leidenschaften Erich Perles geht.

Die Einblicke in das Leben nach dem Krieg und unmittelbar vor Kriegsausbruch, machen den Roman auch zu einem zeithistorischen Dokument, der die unrühmliche Rolle der Schweiz im Umgang mit jüdischen Emigranten nicht tabuisiert.

Gleichzeitig zeigt dieser 2.Teil auf, warum Emilie zu so einer "kaltherzigen" Mutter werden konnte und versucht, ihre Handlungen psychologisch nachvollziehbar zu machen.

Ein vielseitiger Roman, der sowohl aufgrund seiner Komposition, seiner Sprache und - am wichtigsten - seiner Geschichte, die er erzählt, überzeugt.