Mittwoch, 31. August 2016

Kateryna Babkina: Heute fahre ich nach Morgen

- ein außergewöhnliches Romandebüt über eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst.


Buchdaten

Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: Haymon Verlag
Erschienen am: 16.8.2016
ISBN-13: 978-3709972274

Ein ganz herzliches Dankeschön an den Haymon Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
Sonja ist eine lebenslustige junge Frau, eine Malerin, die von allen gemocht wird, in den Tag hineinlebt und die Wahrheit liebt:

"Sonja wollte niemanden belügen und wenn sie doch jemanden belog -was immer mal wieder passierte-, ging sie danach hin und sagte die Wahrheit." (S.8)

Sie lebt in der Ukraine, hat drei guten Freundinnen - Eteri, Nastja und Katja - und einen französischen Lebensgefährten Louis. Doch dieser verlässt sie, da er sie nicht mehr liebt. Dies zerreißt der optimistischen jungen Frau das Herz:

"Erst bei Louis hatte Sonja verstanden, wovor sie sich wirklich fürchten musste: vor dieser Leere, die kam, wenn alles vorbei war. Vor der inneren Taubheit...vor dieser völligen inneren Taubheit." (S.100)

Von Selbstzweifeln geplagt, wagt sie ein nächtliches Abenteuer in einem verlassenen Taubenschlag, das mit fantasievollen Bildern erzählt wird:

"Der Mann war warm, es war schön, ihn zu umarmen. Grünlich, spärliches Licht brach durch die Ritzen in den Brettern, es zitterte vor den kleinen Fenstern. Die unsichtbaren Tauben stöhnten irgendwo auf dem Dach, schlugen mit ihren Flügeln, schmiegten sich aneinander und rückten in die schrägen Morgenstrahlen. Sonja spitzte ihre Lippen und küsste den Mann auf den Bart und neben den Mund - was blieb auch sonst zu tun?" (S.23)

Sie stellt danach fest, dass sie schwanger ist. Doch sie kann keine Beziehung zu dem kleinen Wesen in ihr aufbauen. So kommt sie auf die Idee ihren Vater aufzusuchen, der ihre Mutter und sie verlassen hat, als sie noch ganz klein war. Auf der Reise mit ihrem altersschwachen Lada in ihre Heimatstadt und  ihre Vergangenheit begegnet sie einer Frau, die mit den Toten spricht, dem Zigeunerclan der Likarenkos, der immer wieder ihren Weg kreuzen wird, sowie ihren alten Schulfreund Sascha Wertipu, Pu genannt. Dieser lebt mit Zhenja Wertipo, Po genannt, zusammen.

Da die beiden Männer als homosexuelles Paar Anfeindungen ertragen müssen und Sonjas Vater sich wahrscheinlich in Polen aufhält, beschließen sie gemeinsam mit Sonjas Auto dorthin zu reisen. Nach einem Unfall direkt hinter der Grenze, begegnet Sonja Kai, einem gut aussehenden, aber dubiosen Geschäftemacher, der mit "Wundern" handelt, und vor dem sie ihre Freundinnen telefonisch eindringlich warnen und dem sie nichts von dem Kind erzählen möchte:

"Sonja, sagte Eteri, dein leichtes Leben hatte Charme. Alles, was du erlebt hast, ist ohne dein aktives Zutun geschehen, und das war gut. Aber alles zu seiner Zeit. Diese Zeit ist zu Ende. Du bist schwanger. Das vergeht nicht einfach so, das hast du selbst gesagt, und wenn doch, wird es davon nicht besser." (S.102)

So muss sich Sonja auf die Suche nach ihrer Identität als Mutter machen, ihre Gefühlswelt ordnen und neue Wege gehen. Dabei durchläuft sie "Irrungen und Wirrungen", die teilweise recht fantasievoll, aber auch humorvoll anmuten und im Morgen enden.

Bewertung
Ein ganz ungewöhnlicher Roman, der durch seine unkonventionelle Bildersprache überzeugt.
Die Geschichte ist teilweise etwas skurril und von vielen Träumen Sonjas durchzogen. So erscheinen ihr vor dem Unfall Elche und in Griechenland am Strand ein jüdischer Junge, der im realen Leben im Konzentrationslager vergast wurde und nun behauptet, er wolle mit ihrer Hilfe wieder geboren werden. Nach dieser "Erscheinung" spürt sie ein zweites Herz in sich schlagen und sie kann das Kind annehmen. Es sind fast märchenhafte Szenen innerhalb des Romans, die so leicht daher kommen, als wäre es selbstverständlich, dass die Seele eines Verstorbenen mit Sonja redet. Zeugt es von ihrer reichen Fantasie und Gefühlswelt, von ihren verzweifelten Wunsch, das Kind zu spüren und ihrer Angst, es könne sie nicht lieben? Oder ist es Sonjas kindlicher Glaube, ihr Wille, nicht erwachsen werden zu wollen und Verantwortung zu übernehmen, die ihr diese Traumbilder eingeben? Die Fragen bleiben offen und lassen den Leser/innen die Freiheit, diese Szenen selbst zu deuten.
Mit einem Augenzwinkern wird auch der Aberglaube und die Leichtgläubigkeit einiger Menschen am Beispiel der Wunder, die Kai "verkauft", aufgedeckt.

Ein unkonventionelles Debüt mit einer unbändigen Lust bilderreich zu erzählen, der Lust auf weitere Romane der jungen Autorin macht.

Eine gute Rezension von Janines Meine Welt der Bücher findet ihr hier.