Samstag, 12. September 2015

David Mitchell: Der Wolkenatlas

 Ein außergewöhnlicher Roman

 
Inhalt
Der 1.Teil - Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing - beschreibt ausschnittsweise die Reise eines amerikanischen Notars, der in Australien war, zurück nach San Francisco. Er befindet sich auf den Chatham-Inseln und wartet darauf, dass das Handelsschiff, das ihn mitnimmt, wieder seetüchtig gemacht wird. Dabei lernt er den Arzt Dr. Goose kennen und freundet sich mit diesem an, einem Eingeborenen der Inseln ermöglicht er die Schiffsüberfahrt. Die Tagebuchaufzeichnungen enden abrupt, bevor das Schiff in San Francisco angkommt.
Der 2.Teil besteht aus Briefen des mittellosen, aber zweifelsohne talentierten Komponisten Robert Frobisher an seinen Freund Sixsmith aus dem Jahre 1931. Robert muss vor Gläubigern aus England fliehen und begibt sich nach Brügge, auf Schloss Zedelghem. Dort lebt eine erfolgreicher Komponist, der jedoch blind ist, so dass er keinen Noten mehr aufschreiben kann. Robert dienst sich ihm an und verbringt das Jahr auf Schloss Zedelghem, dort findet er auch das Tagebuch von Adam Ewing, das anscheinend von dessen Sohn posthum herausgebracht wurde. Robert stellt die Vermutung auf, Dr. Goose wollte den Notar auf der Überfahrt mittels seiner Medikamente vergiften.

Sixsmith, 66 Jahre,  ist neben Luisa Rey Protagonist des 3.Teils. Während er ein Atomwissenschaftler ist, ist sie eine Klatschkolumnistin und die Tochter eines berühmten Reporters des Korea-Krieges. Sie lernen sich zufüllig in Buenas Yerbas in einem Fahrstuhl kennen.
Sixsmith arbeitete für Seaboard Power, der einen neuen Reaktortyp ans Netz bringt und brisante Untersuchungsergebnisse unterschlägt. Er wird Opfer eines Verbrechens, das Luisa aufklären will, dabei gerät sie selbst ins Fadenkreuz der Atomkonzerns. Die Briefe von Robert, die Sixsmith kurz vor seinem Tod noch einmal liest, geraten in ihren Besitz.
Frobisher gilt als Komponist des Wolkenatlas-Sextett und verstarb jung, Luisa stellt fest, dass sie das gleiche Muttermal hat wie er .

Der 4. Teil - Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish- spielt in der Gegenwart und der recht erfolglose Verleger schreibt in der Ich-Perspektive (Präsens) seine Erinnerungen nieder. Ihm gelingt ein unglaublicher Coup, als einer seiner Autoren einen Rezensenten, der seinen Roman verrissen hat, auf einer Party aus dem Fenster wirft. Daraufhin landet er natürlich im Gefängnis, der Roman verkauft sich aber sensationell gut. Die Brüder des Autoren fordern jedoch einen Teil des Verkaufserlös und das nicht nur mit netten Worten, so dass Cavendish in die Provinz nach Hull fliehen muss. Auf der Zugfahrt liest er Teil 3: Halbwertszeiten von Hilary V. Hush, ein Roman, der ihm als Verleger zugeschickt wurde, bevor er in der für ihn buchstäblichen "Hölle" - einem Altenheim - landet.

Der 5.Teil - Sonmis Oratio - beschreibt eine dystopische Zukunftsvision, wahrscheinlich im 22. Jahrhundert, in der die Welt, oder das, was davon noch bewohnbar ist, von Konzernen und der "Eintracht" beherrscht wird. In dieser Welt heißen Filme Disneys und Uhren Rolex, es gibt geklonte Menschen und Reinblüter - Konsumenten.
Ein Archivar führt ein Interview mit solch einer genomierten Arbeitersklavin, die Teil eines wissenschaftlichen Experimentes gewesen ist und der der Aufstieg zu einem selbt denkenden Menschen gelungen ist. Auch sie hat jenes ominöse Muttermal, obwohl sie doch geklont ist. Es ist eine bizarre Welt - in Südkorea beheimatet, die befremdlich einerseits und doch seltsam vertraut wirkt - ein Spiegel unserer Konsumwelt.
Die Protagonistin erzählt, wie sie mit einem Vollstrecker des Systems einen Film aus der Vergangenheit sieht:
Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish.

6.Teil Sloosha´s Crossin´ un wies weiterging
Der Titel macht deutlich, dass einer erzählt, der weder Rechtschreibung noch eine druckreife Sprache beherrscht, auch hier handelt es sich um Lebenserinnerungen. Dieses Mal von Zachry, der in Hawai lebt. Diese Geschichte spielt Hunderte von Jahren nach Sonmis Geschichte, die von den Inselbewohnern als Göttin verehrt wird und deren Geschichte in einem Orator aufgezeichnet ist (Interview, Teil 5). Die Menschheit hat sich aufgrund ihrer genetischen Experimente und ökologischen Katastrophen fast ausgelöscht, nur noch vereinzelt gibt es Leben- barbarische Stämme wie die Kona, Anklänge von Zivilisation und eine kleine Gruppe von Prescients, die das Wissen der alten Welt bewahren und erforschen. Eine von ihnen - Meronym, die ebenfalls das Muttermal trägt, bittet die Gruppe, in der auch Zachry lebt und die von einer gewählten Äbtissin "regiert" werden, sie aufzunehmen, um ihr Wissen und ihre Zivilisation zu erforschen.
Wildheit wird dabei folgendermaßen von Zivilisation abgegrenzt:
"Der Wilde stillt sein Verlang. Wenn er hungrich is, isst er. Wenn er Wut hat, hakelt er. Wenn er spitz is, knallt er ne Frau. Sein Will is sein Herr, un wenn sein Wille bestimmt: <Töte, dann tötet er. Wie n Raubtier.> (...) Der Zvlesierte hats selbe Verlang, aber er kuckt weiter. Die Hälfte von sem Essen isste er gleich, ja, aber die andre flanzt er ein damit er morgen kennn Hunger kriegt. Wenn er Wut hat, bleibt er stehn un denkt nach warum, damit er beim näksten Mal keine Wut mehr kriegt. Wenn er spitz is, na ja, er hat Schwestern un Töchter von seinn Brüdern achten. Sein Will is sein Sklave un wenn sein Wille bestimmt: <Tus nich!>, dann lässt ers sein." (S.406)

Am Ende dieses Teils werden die anderen in umgekehrter Reihenfolge fortgesetzt und die Geschichten jeweils zu Ende geführt.

Bewertung
Ein wirklich außergewöhnlicher Roman - in vielerlei Hinsicht.
1. Die Komposition ist ungewöhnlich, da der Roman aus 6 Teilen besteht, wobei " (i)m 1.Satz (...) jedes Solo vom nachfolgenden unterbrochen (wird); im 2. setzen sich die unterbrochenen Soli in umgekehrter Reihenfolge fort." (S.585) So beschreibt Frobisher den Aufbau seinen Wolkenatlas-Sextetts und genauso ist auch der Roman konzipiert.

2. Erzähltechnisch und sprachlich fällt der Roman ebenfalls aus dem Rahmen:
Ist der 1.Teil ein Logbuch in der Sprache des 19.Jahrhunderts verfasst, handelt es sich beim 2.Teil um Briefe, dann folgt der Roman im Roman, eine Ich-Erzählung, die Lebenserinnerungen von Cavendish, die er schon im Hinblick auf eine kommende Verfilmung kommentiert. Der 5.Teil ist als Interview konzipiert, in der eine Zukunftssprache, die Sprache der Konzernokratie miteinfließt und schließlich die Rückentwicklung der Sprache im 6. Teil, die den Verlust der hoch entwickelten Zivilisation verdeutlicht.

3. Alle Teile stehen in Verbindung miteinander, so werden sie jeweils im nächsten Teil erwähnt:
  • Das Logbuch wird von Frobisher gefunden - zuerst der 1.Teil - dann im "2.Satz", der 2.Teil
  • Die Briefe tauchen im Fall der Luisa Rey auf, die restlichen im "2.Satz".
  • Der Roman wird an den Verleger Timothy Cavendish geschickt, der sich dann im "2.Satz" mit der Autorin trifft und die Fortsetzung erhält.
  • Sonmi sieht im "1.Satz" die Verfilmung des Lebens von Cavendish und ihr letzter Wunsch ist es, den Film zu Ende zu sehen.
  • Am Ende des 6.Teils zeigt Zachrys Sohn seinen Zuhörern den Orator, in dem Sonmis Interview gespeichert ist.

4. Alle Hauptfiguren tragen das kometenförmige Muttermale, sind sie jeweils Wiedergeborene?

Etwas schwer getan habe ich mir mit der Botschaft des Romans, doch am Ende erkennt Adam Ewing: "Eines schönen Tages muß ein gäznlich räuberische Welt sich selbst auffressen (...); für die menschliche Species bedeutet Eigennutz ihre Auslöschung." (S.667)
Der sogenannte Fortschritt, die Machtgier, der Wunsch der Weißen, die "unterlegenen" Eingeborenen auszubeuten, führt uns letztlich zurück in die Barbarei - der Versuch die Zivilisation mithilfe von Gewalt zu verbreiten, scheitert an dem Glaubenssatz, den der falsche Arzt Gooose äußert: "Die Schwachen sind der Braten, an dem die Starken gut gerathen." (S.661)
So führt der Roman konsequent vom aufsteigenden Fortschritt zur weitgehenden Zerstörung der Welt mit Etablierung einer Konzernokratie, die ebenfalls scheitert, zurück zur Barbarei - mit leiser Hoffnung, dass die Zivilisation überlebt.
Die Zivlisationsleiter, wie sie ebenfalls im letzten Teil des Romans erwähnt wird, führt also bergab, solange wir nicht glauben, "daß unterschiedliche Rassen u. Glaubensbekenntnisse diese Welt so friedlich miteinander theilen können (...), daß Gewalt geächtet gehört, Macht verantwortet werden muß u. die Reichthümer der Erde u. ihrer Oceane gerecht vertheilt werden sollen" (S.667)
Diese Botschaft, wie sie sich ganz am Ende des Romans offenbart, spannt den Bogen zwischen den einzelnen Teilen, die jeweils aufzeigen, dass Gewalt, Korruption, Machtgier, Verrat, Tod, aber auch mangelnder Respekt vor dem Lebensraum Erde zum Untergang der Menschheit führen werden.

Buchdaten 
Taschenbuch: 668 Seiten 
Verlag: rororo
Erschienen: November 2012
ISBN: 978-3499241413
Originaltitel:Cloud Atlas