Sonntag, 10. Juli 2016

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

- eine Familiengeschichte und ein wunderbarer Liebesroman.

Meine Rezension zur Leserunde auf dem Blog Meine Welt der Bücher. Vielen Dank an Janine, aufgrund unseres Austauschs habe ich den Roman noch intensiver lesen und genießen können.

Buchdaten

Gebundene Ausgabe:

Verlag: Diogenes

Erschienen am: 24.Februar 2016

ISBN-13: 978-3-257-06958-7


Inhalt:

"Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich." (S.9)

So beginnt der Roman, der aus der Ich-Perspektive des Protagonisten Jules erzählt wird, der gerade aus dem Koma aufwacht, nachdem er einen Motorradunfall gehabt hat. Seine Familie ist informiert, er scheint Frau und 2 Kinder zu haben. In der Nacht reflektiert er über sein bisheriges Leben:

"Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?" (S.11)

Dann springt der Roman ins Jahr 1980, Jules erinnert sich und erzählt im Präteritum seinen Familienurlaub als 7-Jähriger. Gemeinsam mit seinen älteren Geschwistern Marty, den er nicht leiden kann, und Liz, die er sehr liebt, besucht er mit seinen Eltern seine Großmutter in Frankreich, im Languedoc. Sein Vater stammt aus dieser Gegend und die Beziehung des Vaters zu seiner Mutter scheint überschattet. Es ist kein fröhlicher Urlaub. Während einer Wanderung, auf der Jules zunächst unerschrocken über einen Ast balanciert, beobachten die Kinder, wie der kleine Hund einer Familie in einen reißenden Fluss fällt und ertrinkt.
Jules fragt sich nachts:

"Denn es schien Familien zu geben, die vom Schicksal verschont blieben, und andere, die das Unglück auf sich zogen, und in dieser Nacht fragte ich mich, ob meine Familie auch so eine war."(S.27-28)

Die Vorausdeutung weist auf das kommende Unglück hin, denn ein halbes Jahr nach dem Urlaub verunglücken die Eltern von Jules, Marty und Liz. Die Kinder kommen in ein Heim, ein Internat mit Schule, nur die Ferien verbringen sie bei ihrer Tante in München. Jede der drei geht unterschiedlich mit der furchtbaren Situation um. Marty wird zu einer Art Nerd, der sich verschließt und sich dem Computer verschreibt, Liz dagegen überspielt ihre Ängste und erscheint als Draufgängerin, die Drogen nimmt und im Internat als "Schlampe" bezeichnet wird. Jules zieht sich ebenfalls zurück, aus dem aufgeweckten, mutigen Jungen ist ein trauriger, ängstlicher geworden, der kaum Vertrauen zu den anderen Kindern fassen kann. Außer zu Alva, mit der er sich anfreundet, denn ein unsichtbares Band führt die beiden zusammen.


"Für einen kurzen Moment sah ich den Schmerz, der sich hinter ihren Worten und Gesten verbarg, und sie erahnte im Gegenzug, was ich tief in mir bewahrte. Doch wir gingen nicht weiter. Wir blieben jeweils an der Schwelle des anderen stehen und stellten einander keine Fragen. " (S.59)

Die Zeit in der Schule wird nur in einzelnen Episoden erzählt, es sind Momentaufnahmen von Jules Leben, wie er von seinem Bruder im Stich gelassen wird, wie seine Schwester verschwindet, wie er sich in Alva verliebt, die ihn jedoch zurückstößt, weil auch sie ein tragisches Ereignis in sich trägt, das sie belastet. Jules und Alvas Wege trennen sich auf unbestimmte Zeit.

Nach der Schulzeit versucht sich Jules als Fotograf, da sein Vater ihm am letzten Weihnachtsfest eine Kamera geschenkt hat und er es als eine Art Vermächtnis sieht, für seinen Vater zu fotografieren, obwohl er lieber schreiben würde. Marty hingegen wird ein erfolgreicher Geschäftsmann, der auf das Internet setzt, das gerade boomt, während Liz den Drogen verfällt.

"Liz hat diese abgründigen, schwarzen Augen bekommen. Die Augen von jemandem, der fällt und fällt und fällt. Und sie liebt den Fall." (S.111)

Marty, der zunächst sehr unsympathisch wirkt, entwickelt sich zum guten Hirten seiner Geschwister und bemüht sich, ihnen gemeinsam mit seiner Frau Elena zu helfen. Nach einem Frankreich-Urlaub und einem gemeinsamen LSD-Trip mit seinen Geschwistern, wird Jules bewusst, dass er sein Leben nicht annimmt.

"Ich stoße ins Innere vor und sehe ein Bild klar vor mir: wie unser Leben beim Tod unserer Eltern an einer Weiche ankommt, falsch abbiegt und wir seitdem ein anderes, falsches Leben führen. ein nicht korrigierbarer Fehler im System." (S.133)

Er beschließt wieder Kontakt zu Alva, seiner einzigen Liebe, aufzunehmen und trifft sie, die inzwischen verheiratet ist, wieder. Die Episoden, die dem zweiten Wiedersehen folgen und seine Beziehung zu dem Ehemann Alvas, einem bekannten Romanautoren, sind aus moralischer Hinsicht diskussionswürdig. Vor allem die Szene im Keller, die ich hier aber nicht vorwegnehmen will.

Es zeigt sich im Folgenden, dass das Leben nicht immer ein "Nullsummenspiel" ist, wie Alva es ausdrückt, trotz all der traurigen Ereignisse, die letztlich zum Motorradunfall geführt haben, entlässt der Roman die Leser/innen in positiver Stimmung und Jules erkennt, dass er in seinem Leben angekommen ist.

"Dieses andere leben, in dem ich nun schon so deutliche Spuren hinterlassen habe, kann gar nicht mehr falsch sein. Denn es ist meins." (S.337)

Bewertung

"Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird." (S.136)

Der Roman erzählt die Geschichte dreier sehr unterschiedlicher Geschwister, die mit dem Tod ihrer Eltern zurecht kommen müssen. Im Mittelpunkt der sensible Jules, der lange braucht, um zu erkennen, dass seine Jugendfreundin Alva die einzige ist, die ihn aus seiner Einsamkeit befreien kann.
Die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Kinder macht deutlich, wie verschieden Menschen auf ein tragisches Ereignis reagieren können. Marty schöpft in einer langen Phase des Rückzugs Kraft und wird zum Rückhalt für seine Geschwister. Liz geht an der ihr auferlegten Verantwortung als Älteste zugrunde, will nicht erwachsen werden und zerbricht fast daran. Und Jules wird vom mutigen Jungen zum zurückgezogenen, ängstlichen, jungen Mann, der jedoch im Laufe seines Lebens wieder zu dem zurückfindet, was in ihm unveränderlich ist. Marty führt ihm vor Augen, dass er über den Verlust hinwegkommen muss, um sein Leben auf seine Art zu leben.

"Du bist nicht schuld an deiner Kindheit und am Tod unserer Eltern. Aber du bist schuld daran, was diese Dinge mit dir machen. Du allein trägst die Verantwortung für dich und dein Leben. Und wenn du nur tust, was du immer getan hast, wirst du auch nur bekommen, was du immer bekommen hast." (S.185)

Ein Roman, der Licht auf einzelne Episoden der Protagonisten wirft und in dem vieles ungesagt bleibt, so dass wir als Leser/innen gefordert sind, die Leerstellen zu füllen und darüber nachzudenken, warum die Figuren so und nicht anders handeln. Der aber sehr gefällig geschrieben ist und den man nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Der Roman ist auch eine großartige Liebesgeschichte, die zu Herzen geht, und man wünscht sich sehnlichst, das Leben wäre ein Nullsummenspiel für Jules und Alva, die so viel Trauriges erlebt haben.

Ein wunderschöner, berührender Roman, der hoffentlich noch viele Leser/innen findet.